Meine privaten Memoiren
Meta
Der nachfolgende Text ist nicht nur umfangreich, man könnte ihn auch als schonungslosen Seelenstriptease betrachten. Viele würden sich sicherlich fragen, wie dumm (und/oder narzisstisch) man sein kann, sein Leben in so einer Detailtiefe ins Netz zu stellen. Nun ja, da ein Großteil meines Lebens sich in Datennetzen abgespielt hat, gibt es eh nichts zu leugnen - fast alles lässt sich ergooglen. Ich habe mich daher irgendwann entschieden, mit meiner Lebensgeschichte völlig transparent umzugehen und diesbezüglich keinerlei Geheimnisse zu pflegen. Die sehr wenigen Dinge die ich für wirklich Privat halte, befinden sich auf verschlüsselten Festplatten - da sind sie sicherer verwahrt als in meinem Gedächtnis, welches äußerst schlecht und unzuverlässig ist.
Kindheit
Meine Kindheit war davon geprägt, dass meine Eltern aus verschiedensten Gründen immer wieder umziehen mussten. So kam ich im Laufe der Jahre auf ca. 30 Umzüge, und habe in den meisten Teilen Deutschlands schon gewohnt. In kaum einer Schule habe ich länger als ein Jahr verbracht. Nun würde man davon ausgehen, dass dies für die Entwicklung eines Kindes hinderlich sein muss, und für meine Geschwister trifft das vielleicht auch zu. Für mich war es ein Glücksfall - das erläutere ich gleich noch.
Mit ausgeprägten (aber nicht diagnostizierten) autistischen Zügen kam ich mit meiner Umwelt anfangs kaum klar. Im Kindergarten war ich exakt einen dreiviertel Tag - nachdem man mir zum Mittagessen die Holzeisenbahn wegnehmen wollte (die ohnehin eine viel zu hohe Zahl an defekten an den Rädern und Puffern aufwies), rastete ich völlig aus. Auch in der Schule war ich immer Außenseiter. Schon in der Grundschule waren regelmäßige Besuche beim Rektor angesagt, und allgemein verzweifelte das Schulsystem an meinem Charakter. Soziale Kontakte nahm ich wenige auf, und die Interessen meiner Mitschüler waren mir völlig fremd. Das Konzept der Zugehörigkeit zu verschiedenen Musik- und Modestilen verstand ich beispielsweise erst im Alter von 15 Jahren halbwegs.
Computer
Dank meines großen Bruders Stefan Kissel hatte ich im Alter von ca. 7 Jahren erstmals Zugang zu einem Computer - einem Texas Instruments CC40. Er zeigte mir erste Schritte, und ich durfte ein wenig mit dem Gerät experimentieren. Mit 10 Jahren schenkte er mir dann meinen ersten eigenen Computer, einen Commodore C16. Ich begann zu programmieren und auf Basis von BASIC-Handbüchern englisch zu lernen. In dieser Welt ging ich völlig auf, und fühlte mich zu Hause.
Als weiteres Hobby legte ich mir das Auswendig lernen von Bus- und Straßenbahnfahrplänen zu. Als wir eine Zeit lang in Essen im Ruhrgebiet lebten, kam das Fahren mit Straßen- und U-Bahnen dazu. Tagelang war ich im Alter von 9 Jahren Ruhrgebiet alleine in Straßenbahnen unterwegs - eine der schönsten Erinnerungen an meine Kindheit. Ein Sicherheitsproblem war das nicht - ich kann ja alle Strecken und Fahrpläne auswendig.
Trial & Error - ein iterativer Lernansatz
Warum haben mir die ständigen Schulwechsel geholfen? Sie legten die Grundlage für mein gesamtes weiteres Leben, welches aus Trial and Error (Versuch und Irrtum) bestand. Ich konnte immer wieder von vorne anfangen, nachdem ich mich sozial komplett ins Abseits manövriert hatte. So begann ich recht früh als Klassenclown die Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen, lernte aber dabei, dass effektiv über mich gelacht wurde. Also lernte ich die psychischen Schwächen der stärksten der Klasse (die Fußballspieler, Kinder reicher Eltern etc) zu analysieren, und daraus im Laufe der zahlreichen Iterationen eine Waffe zu machen. Nun konnte ich dafür sorgen, dass über diese Personen gelacht wurde. Damit wurde ich dann unangreifbar. Irgendwann begann ich das Konzept auch auf die Lehrkörper auszuweiten. Eine Grenze konnte ich nicht erkennen, und hatte auch keinerlei Gespür dafür, dass ich andere Menschen verletzte. Im Alter von 13 Jahren war ich dann soweit, dass ich nach Eintritt in eine neue Schule innerhalb weniger Wochen unangreifbarer Rudelführer wurde. Als ich dann nach einem weiteren Umzug an einem etwas zwielichtigen Gymnasium in Wiesbaden landete, war ich von ziemlich viel Gewalt umgeben. Zu diesem Zeitpunkt legte ich mir dann eine "Gang" zu, und hatte einen persönlichen Beschützer - einen großen, kräftigen Italiener. Zu diesem Zeitpunkt war ich dann endgültig zum Tyrann geworden. Ich jagte Mitschüler quer durch die ganze Stadt, bis sich diese in einer Bäckerei versteckten und über den Hinterhof flüchteten - obwohl mir diese Schüler körperlich überlegen waren, hatten Sie vor meinem Psychoterror eine Heidenangst. Mitschüler ließen sich aus Angst vor mir von der Schule beurlauben. Ich verstand immer noch nicht, dass andere Menschen meinetwegen Leid erlitten. Man wollte mich der Schule verweisen, meine Eltern verklagten das Land Hessen - am Ende erledigte sich der Fall aber durch einen Umzug in anderes Bundesland.
Erster Kontakt mit der Demoszene
Zu dieser Zeit kam ich erstmals mit der Demoszene in Kontakt. Seinerzeit tauschten die wenigen existierenden Computerfreaks auf dem Schulhof Disketten aus. Bei den meisten ging es dabei um Spiele. Diese Spiele waren oft von Crackinggruppen von ihrem Kopierschutz beraubt worden, und trugen stattdessen einen "Intro" genannten Vorspann. Mit Musik, einem Logo, einem Scrolltext und vielleicht etwas Animationen gaben die Cracker damit an, wie gut sie darin waren Kopierschütze zu entfernen. Mit der Zeit verlagerte sich dieser Wettbewerb der Cracker dahin, wer nun den schönsten solchen Vorspann programmierte. Im nächsten Schritt begann über Disketten neu programmierte Vorspänne auszutauschen, ohne dass es schon ein geknacktes Spiel gab. Und schließlich ließ man die Spiele weg, und verlagerte sich ganz darauf, Echtzeitanimationen mit Musik und Effekten zu programmieren, und damit als Gruppe gegen andere Gruppen anzutreten, um zur "Elite" aufzusteigen. Die Werke hießen nun "Demos", da sie demonstrierten, was der Autor konnte.Die Gruppen trugen coole Namen, und alle Mitglieder dieser Gemeinschaft legen sich ebenso coole Spitznamen, "Handles" zu - auch deswegen, da man ja immer noch mit der illegalen Crackergemeinschaft verbunden war, und daher anonym bleiben musste. Der Austausch der Werke erfolgte über ""Trader", welche ihr gesamtes Taschengeld dafür ausgaben, Disketten zu kopieren und diese an ihre Kontakte rund um die Welt weiterzuschicken. Da sie Szene immer weiter wuchs, kamen da im Monat durchaus hundert Disketten zusammen. Dabei wurde auch mit gefälschten Briefmarken und anonymen Postfächern gearbeitet. Irgendwann begannen sich die Mitglieder der Szene dann, sich an verschiedenen Orten Europas über Wochenenden zu treffen. Anfangs nannte man das noch "Copyparty", da das ganze Wochenende Disketten kopiert wurden. Mit der Zeit begann man aber auch, bei diesen Partys selber neue Werke den anderen vorzuführen. Und so war die "Demoparty" geboren - man verbrachte das Wochenende damit, seine Produktionen fertigzustellen und sie dann den anderen zu zeigen. Später kamen dann Wettbewerbe dazu, bei denen an diesem Wochenende dann die Szener mit ihren Demos gegeneinander antraten. Der Altersdurchschnitt lag damals so bei 16-17 Jahren.
Als ich in diese Welt eintauchte, war ich dann mit 13 Jahren doch noch zu jung, um selber auch auf diese Partys zu fahren. Aber ein Mitschüler, der als Trader aktiv war, stieg aus, und vermachte mir seine Diskettensammlung mit Demos, sowie seine Tradingkontakte. Ich begann meine ersten eigenen kleinen Demos zu programmieren, und Disketten zu tauschen.
Vorsichtig an der Bahnsteigkante
Dass ich stark Bahn-affin war, hatte ich ja schon an meinem Kindergarten-Tag sowie meinen unbegleiteten Straßenbahntouren durch das Ruhrgebiet bewiesen. Als mein Vater bei der Wiesbadener Nassauischen Touristikbahn - einer von Schicksalsschlägen geplagten Dampfzug-Museumseisenbahn in den Taunus - als Mitglied eintrat, erfüllte er sich damit einen lange gehegten Traum: Bahner werden. Ich war ebenso begeistert, und wurde mit 13 Jahren des jüngste aktive Mitglied des Vereins. Zu meiner Berufung zum Computerfreak gesellte sich daher noch ein weiteres Hobby: Bahnspielen im Maßstab 1:1. Als Lokführer war ich natürlich noch zu jung. Aber der Verein schaffte einen großen Minibar-Trolley (sehr viel mächtiger als der Kinderkram, der in Flugzeugen Verwendung findet...) an, und fortan kümmerte ich mich Wochenende für Wochenende um die Bewirtung im Zug. Das machte mir einen Riesenspaß, und da ich mit meiner Eisenbahneruniform so putzig aussah, gab es auch ordentlich Trinkgelder. Damit einher ging auch der erste Fernsehauftritt meines Lebens: In einem damaligen Bericht der Fernsehsendung "Eisenbahn-Romantik" hatte ich einen kurzen Auftritt. Auch als wir etwas später aus Wiesbaden nach Bingen umgezogen waren, nahm ich noch für ein weiteres Jahr am Wochenende die recht weite Anfahrt nach Wiesbaden in Kauf, um dabei sein zu können. Aufgrund erkennbaren Ähnlichkeiten in unseren Charakterzügen zerstritt sich mein Vater mit dem Verein, womit das Kapitel Eisenbahn zuerst für ihn, und nicht lange darauf auch für mich erst einmal beendet war.
Der Schulrebell
In der Schule waren meine Interessen mittlerweile ausschließlich auf Macht und Rebellion ausgerichtet. Ich gründete Schülerzeitungen, lies mich mit intensivem Wahlkampf erst zum Klassensprecher und später zum Schulsprecher wählen, und versuchte wo immer ich Unrecht witterte (und davon gibt es an Schulen eine ganze Menge), dagegen anzukämpfen. Am Ende nahm ich das gesamte Schulsystem als Feind war. Immerhin hatte ich zu diesem Zeitpunkt erstmals dauerhafte Freunde gefunden, und die älteren Mitschüler, die in mein Schülerzeitungsteam kamen, empfand ich als intellektuell befruchtend. Nach einem ziemlich erfolgreichen Schülerpraktikum wurde ich als Nebenjob "Reporter" für die lokale Allgemeine Zeitung.
Modems, Mailboxen und Datennetze
Zwischenzeitlich war ich nun in die Welt der Datennetze angekommen. 1993 bekam ich von einem Gönner ein erstes Modem geschenkt, und begann mich in sogenannte Mailboxsysteme (BBS) einzuwählen. Ich produzierte damit gigantische Telefonrechnungen. Damit wurde ich dann auch Teil des FidoNet, einem weltweiten Verbund aus Mailboxen, über die man so etwas ähnliches wie Emails verschicken konnte, und in einer Art Foren diskutieren. 1994 gründete ich mein eigenes Forum zum Thema Demoszene in Deutschland, und zeigte als Moderator auch dort tyrannische Züge. Trotzdem war das Forum äußerst erfolgreich. Auch an regionalen Treffen von Betreibern und Nutzern von Mailboxen nahm ich teil, und lernte auch hier mehr Menschen kennen. In den Datennetzen hatte ich endlich ein Zuhause gefunden. Ende 1994 hatte ich dann via ISDN erstmals Zugang zum jungen Internet, was damals aber noch wenig spektakulär war - das FidoNet war noch interessanter. Seit diesem Zeitpunkt ist übrigens meine digitale Identität öffentlich belegt. Eine der ersten Suchmaschinen, Altavista, hatte damals Zugang zu einem Archiv aller FidoNet-Nachrichten erhalten und dieses indiziert. Als dann 1995 Google eröffnete, übernahm Google wiederum dieses Archiv. Daher kann man bei Google u.a. sehr schlechte und peinliche Liebesgedichte aus dieser Zeit von mir noch heute, über 20 Jahre später, finden. Sollte man aber besser lassen.
Meine erste Demoparty und mein erstes Business
1995 war es endlich soweit: Ich besuchte meine erste Demoparty. Einige ziemlich anarchische Demoszener hatten diese kleine Party namens "Underground Conference" in Süddeutschland ausgerichtet, die man als Parodie auf bestehende große Demopartys (die mittlerweile zum Teil schon kommerzialisiert worden waren) verstehen konnte. Es war eine tolle Erfahrung. Das Demoparty-Fieber hatte mich gepackt, und so besuchte ich gleichen Jahr noch "Wired" in Belgien und "The Party" in Dänemark.
Im Jahr 1995 ging es insgesamt dann Schlag auf Schlag. Ich gründete einen Computerladen (der Teil ist unter Geschäftliches beschrieben). Mein Vater unterstütze mich dabei nach Kräften. Parallel hatte ich endgültig so etwas ähnliches wie die Pubertät erreicht, und mich zu einem ziemlich unangenehmen Menschen entwickelt. Das Schulsystem war an mir mittlerweile endgültig verzweifelt, und ich an ihm. Eine Zeit lang ging ich parallel zur Arbeit in meinem Computerladen noch in die Schule, lies es dann aber sein. Da meine Eltern schon wieder am umziehen waren, ich mich aber mittlerweile in Bingen verwurzelt fühlte, zog ich von zu hause aus, in meine erste eigene Bude.
Der erste selbst organisierte Event
Bereits ein Jahr später entschied ich mich, selber eine Demoparty zu organisieren - eine ziemliche Mammutaufgabe. Ich entschied mich, dass man das Konzept der anarchistischen und rebellischen Demoparty noch weiter ausbauen konnte, indem man das ganze in ein Zelt im Wald verlegt - der Kontrast zwischen Computerfreaks und Natur konnte größer nicht sein. Ich übernahm dabei den Namen "Underground Conference", und einige Organisatoren der ersten UC unterstützten mich. Ein plötzlicher Wintereinbruch im Mai machte diese Party zu einem Überlebenstraining für seine Besucher, die in geringerer Zahl kamen als erhofft. Ich hatte mich finanziell völlig verkalkuliert, und war nach der Veranstaltung total verschuldet. Wochenlang ernährte ich mich von bei der Veranstaltung übrig gebliebenen TK-Pommes Frites (ich hielt es für lustig im Wald zu frittieren). Parallel macht ich meine ersten Erfahrungen mit dem weiblichen Geschlecht. Im Internet entdeckte ich den Internet Relay Chat, und verlegte mein Sozialleben größtenteils auf das Chatten.
Pubertät und Absturz
Es begann eine eher düstere Phase meiner Jugend. Mein Vater konnte die Verluste des Computerladens nicht länger tragen, meine Bude versiffte extrem, und ich litt unter Depressionen. Meine zweite Beziehung zerbrach an fast schon fanatischer Eifersucht und Verlustängsten meinerseits. Ich wendete mich für gut zwei Jahre von der Demoszene ab. Passend zu meiner dunklen Stimmung wendete ich mich statt der Demoszene nun der Crackingszene zu - da deren Aktivitäten illegal waren, waren die Teilnehmer deutlich verschworener. Persönliche Treffen kamen nicht in Frage, alles war anonym. Ich wurde Mitglied der "United Cracking Force", einer seinerzeit führenden Gruppe. Für die Nutzung durch diese Crackingszene entwickelte ich ein Chatsystem, welches erstmals eine Brücke zwischen dem IRC und dem World Wide Web (WWW) herstellte. Dies stellte später die Basis dar für mein kommerzielles Produkt "Chatjet". Dank eines Gönners aus meinen Zeiten als Computer-Techniker hatte ich das Kapital, den gescheiterten Computerladen in eine GmbH zu überführen, die sich auf Softwareentwicklung spezialisierte. Eine Bekanntschaft aus dem IRC zog nach Bingen, um bei meiner Firma zu arbeiten. Einen befreundeten Cracker aus Russland holte ich nach Deutschland, um ebenfalls dabei zu sein. Das restliche Team bestand aus lokalen Freunden und Familie. Kommerziell lief es nun etwas besser, und es reichte, um das Team einige Jahre zu ernähren.
Zurück zur Demoszene
Nachdem es mit mir wieder aufwärts gegangen und Pubertät und Depressionen weitestgehend abgehakt waren, kehrte ich 1998 nun auch zur Demoszene zurück. 1998 richtete ich eine weitere Underground Conference aus. Die war zwar wieder mit Verlusten behaftet, lief aber schon deutlich besser, und wurde von allen als großer Erfolg wahrgenommen. Im Jahr 1999 folgte daher direkt die nächste Party, die mittlerweile vom Stil her als einzigartig bekannt geworden war.
Exkurs: Die Frauen und die Nerds
Frauen waren in der Demoszene und den Datennetzen damals die absolute Ausnahme - bei den größten Demopartys kamen auf 500 männliche Jugendliche maximal zwei weibliche. Die waren dann aber doppelte Exoten: Sie waren nicht nur vom anderen Geschlecht, sondern zudem selber nicht kreativ aktiv. Sie waren schlicht von den wenigen männlichen Nerds mitgebracht worden, die eine Freundin hatten.
Weibliche Computerfreaks waren also ein Mythos. Aus heutiger Sicht wird diese Realität verkannt: Man wundert sich, warum es so wenig Frauen in IT-Berufen gibt, und vermutet oft Sexismus der männlichen Nerds dahinter. Das Gegenteil ist der Fall. Nerds wurden damals schlicht als unattraktive Wunderlinge, Außenseiter und Verlierer wahrgenommen, das untere Ende jeglicher sozialen Skala. Das war nichts, was man sich freiwillig aussuchen würde. Mädchen, die als Kind vielleicht das Potential gehabt hätten ein Nerd zu werden, werden diese Tendenz von ihren Eltern und Umfeld unterdrückt bekommen haben. Bleiben noch potentiell die, denen man das Nerd-sein nicht ausreden kann: Autisten. Nun kommt Autismus genetisch bei Männern aber vier mal so häufig vor als bei Frauen. Die Voraussetzungen für das Entstehen weiblicher Demoszener waren also ziemlich schlecht.
Die Demoszene versuchte hingegen schon seit frühestens Jahren nach Kräften, mehr Frauen anzulocken. Frauen wurde nicht mit Sexismus, sondern mit Respekt (oder gar Angst) begegnet. So war es gut ein Jahrzehnt lang Tradition, dass Frauen freien Eintritt zu Demopartys hatten, da man ihr erscheinen fördern wollte (dahinter steckte allerdings zugegebenermaßen sicherlich auch die Hoffnung, über diesen Weg überhaupt mal in Kontakt mit Frauen treten zu können).
Das Internet und der Internet Relay Chat war zu diesem Zeitpunkt allerdings schon verhältnismäßig bekannt geworden, und hatte bereits gut hunderttausend Teilnehmer. Damit tauchen dann trotz aller statistischen Unwahrscheinlichkeit auch erstmals Frauen dort auf, und darunter waren dann doch auch einige Nerds, die über diesen Weg mit der Demoszene in Kontakt kamen. Erstmals waren damit um die Jahrtausendwende auf Demopartys nun auch weibliche Nerds zugegen. Das Ergab nun eine neues Problem: Es gab nun auf Partys zwei Typen von Frauen. Zum einen die von Demoszenern mitgeschleppten Freundinnen, die es zum Teil durchaus begrüßten, von mehreren hundert Jungs als Objekt der Begierde angesehen zu werden. Zum anderen gab es nun aber selbst aktive kreative weibliche Nerds. Diese wollten viel weniger als Jagdobjekt betrachtet werden, sondern - wie die männlichen Szener auch - nach ihrem Können und kreativen Leistungen beurteilt werden. Gut auszusehen verkomplizierte diese Unterscheidung dann natürlich noch weiter. Als 1999 ein weiblicher Nerd in den deutschsprachigen IRC-Kanälen der Demoszene auftauchte, die sowohl als Grafikerin kreativ aktiv und zudem auch ausgesprochen gutaussehend war, war die Aufregung natürlich groß.
Ich lerne meine Partnerin kennen - über das Internet!
Die junge Dame und ich kamen im IRC immer häufiger ins Gespräch, und wir verstanden uns gut. Auf der Demoparty Mekka & Symposium 1999 begegnete ich ihr dann das erste Mal persönlich. Mein Erscheinen muss dabei sicherlich verwirrend gewesen sein: Ich hatte zu der Party eine Anhängerladung Strohballen mitgebracht, die ich um meinen Computerplatz herum verteilte, dazu eine völlig übertrieben riesige Musikanlage. Und schließlich hatte ich noch eine mit einem Quake T-Shirt bekleidete und erstochene Sexpuppe von der Decke gehängt - das sollte ein Protest dagegen sein, dass immer mehr Spieler zu den eigentlich der Kreativität verschriebenen Demopartys auftauchten. Dazu dann noch meine schwarz gefärbten Haare, die von anderen Szenern völlig zu Recht als "Wischmob" bezeichnet wurden, Sonnenbrille und Fila-Turnschuhe - eine wirklich merkwürdige Gestalt. Trotz allem: Es funkte zwischen uns. Wenig später waren wir verliebt und befanden uns in einer Fern- und Wochenendbeziehung. Zur dritten "Underground Conference" traten wir dann bereits als Paar auf, und sind es seitdem auch geblieben.
Meine ersten Messeauftritte und die Dot-Com-Blase
Geschäftlich war zu dieser Zeit die "Dot Com Bubble" dabei, sich aufzublasen. Auf einmal waren Internet-Unternehmen total hip. Erstmals wurden Nerds nicht mehr als reine Außenseiter wahrgenommen, sondern es wurde erstmals im Ansatz erkannt, dass diese möglicherweise gerade dabei waren, die Zukunft der Menschheit umzugestalten. Mit meinem Chatsystem stelle ich in diesen Jahren auf diverse Computermessen aus, darunter die Systems in München, der Internet World in Berlin. Unterstützt wurde ich dabei von zwei guten Freunden aus Bingen. Auch heute gehören sie zu meinen engsten Freunden, und sind zudem bei Viprinet tätig.
Ich hatte meine große Liebe gefunden, in der Demoszene war ich erfolgreich und respektiert, und die Geschäfte liefen auch ziemlich gut. Das Leben war gut. Ich organisierte weitere Editionen der Underground Conference, und progammierte weitere Demos und Tools. Als die Dot-Com-Blase 2001 platzte, betraf mich das kaum - ein kurz vor Platzen der Blase bei mir eingestiegener Investor ging zwar Pleite, das investierte Geld durften wir aber behalten. Mein größter Ausgabenposten war eine Standleitung mit 2 MBit/s, damals eine wahnsinnige Geschwindigkeit - aber eben auch wahnsinnig teuer.
Die Bahn kommt, vierter Akt
Zu dieser Zeit erfüllte sich mein Vater einen Traum, der meinen Verrücktheiten durchaus ebenbürtig war: Er kaufte einen alten Esslinger Bahntriebwagen aus den 50er Jahren nebst Beiwagen und gründete ein Eisenbahnverkehrsunternehmen - die "Rheinhessische Eisenbahn". Ziel war es, auf der seinerzeit faktisch schon lange stillgelegten Eisenbahnstrecke von Bingen in das Hunsrück-Gebirge Ausflugsfahrten anzubieten. Kein einfaches Ziel, denn die Deutsche Bahn versuchte mit allen Mitteln, dies zu verhindern - rechtlich betrachtet hätte sie die Strecke nämlich nicht verkommen lassen dürfen, sondern wäre gesetzlich verpflichtet gewesen, diese in Stand zu halten. Aber auch mein Vater war einem guten Streit nicht abgeneigt, und zwang die Deutsche Bahn gerichtlich in die Knie. Und so fanden tatsächlich einige der Sonderfahrten statt, wobei unsere ganze Familie mithalf. In diesem Rahmen legte ich im Unternehmen meines Vaters dann auch die Lokführerprüfung ab, und durfte nun auch selber den Triebwagen steuern. Das ganze gipfelte dann in einem völlig verrücktem Abenteuer - dem Hacktrain.
Einem recht bekannten Mitglied der deutschen Hackercommunity - Enno Lenze - kam damals die Idee, dass es eine tolle Sache wäre, wenn zum jährlich in Berlin stattfindenden Hackerkongress "Chaos Communication Congress" ein Sonderzug fahren würde. Nachdem er bei allen erreichbaren Bahnunternehmen Absagen kassiert hatte, postete er im Usenet (einem mit dem FidoNet verwandten Forensystem, welches schon vor dem WWW im Internet existierte), ob denn jemand eine Idee hätte, wie man das ganze realisieren könnte. Dieses Posting las wiederum ich, und nahm Kontakt auf. Ich schlug vor, die Tour mit unserem Esslinger Triebwagen durchzuführen. Es enstand ein völlig wahnsinniger Plan:
In einer insgesamt 18 Stunden dauernden Fahrt sollte es am zweiten Weihnachtsfeiertag 2002 mit einem Zug voller Hacker von Mainz über das Ruhrgebiet und Hannover nach Berlin gehen - und drei Tage später wieder zurück. Und das ganze mit einem 50 Jahre altem Triebwagen mit einer Höchstgeschwindigkeit von 80 km/h und zwei Hobbylokführern (meinem Vater und mir). Aber die Beteiligten waren alle mindestens so begeistert wie verrückt, und so zogen wir es durch. Dem Alter des Zugs stand dabei ein gehöriger Innovationswille gegenüber. Und so gab es Dinge, die es bei der Deutschen Bahn teils erst 10 Jahre später, teils bis heute noch nicht gab. Vorab gab es ein ausgeklügeltes Buchungssystem, bei man sich in einer grafischen Übersicht ganz genau seinen Sitzplatz aussuchen konnte, und auch sah, welche anderen Hacker um einen herum saßen. Der gesamte Zug selbst war kreuz und quer vernetzt, an jedem Platz gab es Steckdosenleisten. Es gab ein interaktives Jukeboxsystem, bei dem man eigene Songs hochladen konnte, und dann alle Fahrgäste online abstimmen konnten, welche Songs als nächstes gespielt werden würden. Einzig Internetzugang gab es noch nicht - die dafür nötige Technik hatte ich leider erst 4 Jahre später erfunden...
Die Fahrt selbst verlief nicht ohne Probleme - der Triebwagen war 50 Jahre zuvor weder für eine solche Langstrecke noch für ein solches Zielpublikum ausgelegt worden. Wir mussten Dieselfässer im Zug mitführen, und zwischendurch auf freier Strecke damit den Zug nachbetanken. Die Stromgeneratoren, die den nötigen Saft für die ganze mitgebrachte Technik liefern mussten, waren auch nicht völlig wartungsfrei. Größtes Problem war allerdings, dass im hinteren Beiwagen die Heizung nicht richtig funktionierte. Geheizt werden musste also mit Laptop-Abwärme. Zum Glück waren die Teilnehmer mit Begeisterung dabei, und auch für sie war der Weg Teil des Ziels. Als Lokführer kamen mein Vater und ich hart an unsere Belastungsgrenzen - es wird von Nichtbahnern immer massiv unterschätzt, wieviel ununterbrochene Dauerkonzentration das Fahren eines voll besetzten Zuges bedeutet. Unter dem Strich war es aber wieder eine Erfahrung, die mein Leben unglaublich bereichert hat, und die ich nicht missen wollen würde.
Eine Nummer größer, bitte: Breakpoint
2002 hatten sich die Organisatoren der seinerzeit mit über 500 Teilnehmern größten deutschen und mittlerweile weltweit zweitwichtigsten Demoparty zerstritten, und verkündeten, dass die seit 1996 stattfindendete Party nicht fortgesetzt werden würde. Für die Demoszene war das ein Super-GAU. Obwohl ich bisher nur Erfahrung mit der Organisation meiner kleinen Unterground Conference mit unter 100 Teilnehmern hatte, kam ich mit den Organisatoren ins Gespräch, und bot an eine Nachfolgeparty aufzubauen. Das Angebot wurde angenommen, und Teile des bisherigen Organisationsteams wechselten in meine Führung. Während die Party bisher im hohen Norden stattgefunden hatte, wurde sie nun nach Bingen verlegt - anders wäre das sonst für mich nicht zu stemmen gewesen. Für die erste Ausgabe dieser neuen Party "Breakpoint" hatte ich ein ehemaliges Bundeswehrdepot auf einer Anhöhe über ziemlich abenteuerliche Wege angemietet. Wie schon bei meiner ersten organisierten UC machte mir das Wetter einen Strich durch die Rechnung. In der unbeheizten Halle zog es wie Hechtsuppe, die angemieteten gigantischen Heizlüfter hatten keine Chance, obwohl sie über das Wochenende tausende Liter Heizöl (und damit mein Geld) verbrannten. Die Party erhielt den Spitznamen "Freezepoint", war aber trotzdem ein Erfolg. Wie schon bei der UC hatte ich die kommerziellen Aspekte zurückgefahren, und die Party insgesamt "rauer" gestaltet. So waren Wiesen Teil der Party, und es gab ein großes Lagerfeuer. Das kam sehr gut an. So war die Party dann trotzdem ein Erfolg.
Von 2003 bis 2010 richtete ich die Party nun jährlich aus, und sie wuchs von Jahr zu Jahr, und wurde unter jeglichem Gesichtspunkt immer weiter optimiert. 2009 waren wir dann erstmals in der Situation, dass uns kaum noch etwas einfiel, was man hätte besser machen können. Mit 1100 Teilnehmern und einem Budget von über 50.000 Euro war die Veranstaltung mittlerweile aber ein gigantisches finanzielles Risiko geworden.
Die weitere Geschichte der Breakpoint kann man bei Wikipedia und detaillierter auf der Website der Breakpoint nachlesen.
Ich erfinde Breitbandbündelung und gründe Viprinet
Zurück zum Geschäft: 2005 kam DSL auf. Das war zwar im Vergleich zur Standleitung im Upstream zu langsam und unzuverlässig, aber viel billiger. Ich erfand daher eine Technik, mehrere dieser Leitungen zusammenzuschalten. In Summe hätte ich damit mehr Bandbreite und geringere Kosten als bei der Standlietung. Zusammen mit meinem Team bei Computerman sowie weiteren befreundeten Demoszenern entwickelte ich das weiter, und implementierte es dann als Hardwarerouter. Die Finanzierung dazu wiederum kam von befreundeten Demoszenern. Viprinet war geboren. Das ist unter Geschäftliches näher beschrieben.
Der Aufbau von Viprinet parallel zu der jährlichen Riesenveranstaltung Breakpoint hielt mich völlig auf trapp, und lastete mich nervlich wie finanziell völlig aus. 2006 entschied ich zudem, nochmals eine Underground Conference auszurichten, da viele Szener und auch ich selbst diese anarchistische und "rohere" Demoparty vermissten. Und so persiflierte ich dort nun quasi meine eigene große Demoparty, die mit seinen Sponsoren wie Intel und Nvidia sowie Aufmerksamkeit der Presse zwischenzeitlich selbst ein zumindest ein wenig kommerziell und Mainstream geworden war.
Leben am Limit und Feinde für's Leben
Im Jahr 2010 war ich dann völlig ausgebrannt, und befand mich kurz vorm nervlichen Zusammenbruch ( was auch daran lag, dass zu diesem Zeitpunkt ein Zerwürfnis zwischen den Viprinet-Gesellschaftern entstanden war). Nach 8 Jahren war es klar, dass es Zeit für eine Veränderung und einen Generationswechsel war. Breakpoint 2010 wurde als letzte Party dieser Serie angekündigt. Sie wurde ein riesiger Erfolg und höchst emotional. Die Trennung fiel mir unglaublich schwer. Auf der Bühne flossen Tränen, und es gab zum Abschied Standing Ovations. Es dauerte viele Jahre, bis ich diesen Abschied halbwegs überwunden hatte. Wie schon beim Übergang der Mkka-Symposium zur Breakpoint wechselten Teile des Breakpoint-Organisationsteam in das Team einer Nachfolgeveranstaltung, die im nächsten Jahr dann in Saarbrücken stattfand. Ich war dort nicht mehr Teil des Organisationsteams, mit meinem Unternehmen allerdings Hauptsponsor. Die Party war und ist ebenfalls großartig, allerdings deutlich "glatter". Der raueren Art der Breakpoint trauern noch heute viele Demoszener nach.
Wie unter Geschäftliches beschrieben, hielt mich zwischen 2010 und 2012 ein Gesellschafterkrieg in Atem. Ein Privatleben hatte ich bis auf Demopartybesuche nun gar nicht mehr. Mein gesamtes Privatvermögen und Nervenkostüm ging dafür drauf, mich gegen die Angriffe meines Mitgesellschafters zu verteidigen. Zeitweise lief ich nur noch mit Bodyguards herum. 2012 hatte ich dann das Unternehmen vor meinem Mitgesellschafter gerettet, und konnte mich daran machen diverse Trümmer zu beseitigen.
Reflexion
Schon mein ganzes Leben lang habe ich mich selber analysiert, Selbstgespräche geführt, und versucht mich aktiv zu verändern. Wenn man als Autist mit Sozialphobien beginnt, ist das schlicht erforderlich, um in der Gesellschaft einen guten Platz finden zu können. Nachdem der Gesellschafterkrieg halbwegs ausgestanden war, war es für mich auch Zeit für intensive Selbstkritik. Wie schon zu Schulzeiten hatte ich auf die Gefühle meiner Mitgesellschafter viel zu wenig Rücksicht genommen. Hätte ich weniger schonungslos, analytisch und direkt reagiert, wären viele Konflikte deutlich entschärft geworden. Vielleicht hätte sich sogar die Eskalation zu einem Gesellschafterkrieg irgendwie verhindern lassen können, also abgesehen von der Option aufzugeben und mir und meinen Freunden und Familie das von mir aufgebaute Unternehmen zerstören zu lassen. Mir wurde bewusst, dass ich ein schöneres Leben haben könnte, wenn ich mir weniger Feinde machen würde, in dem ich auf die Befindlichkeiten meiner Geschäftspartner mehr Rücksicht nehme, und berücksichtige, dass andere Menschen anders als ich nicht von Logik getrieben und gesteuert werden. Seit dieser Zeit habe ich meine Bemühungen ein besser únd sozial kompatbilierer Mensch zu werden, verstärkt. Ich beginne zu verstehen, wie andere Menschen funktionieren, was sie antreibt. Statt wie früher Schwächen zu identifizieren und dort reinzuschlagen nehme ich nun Rücksicht auf die Verletzlichkeiten anderer Menschen.
Ich fühle mich terrorisiert
Was Herrn W. angeht kommen diese Erkenntnisse natürlich zu spät. Die vermutlich von Rachegelüsten getrieben Angriffe meines ehemaligen Mitgesellschafters endeten allerdings leider nicht. Zwar war es mir gelungen, das Unternehmen vor ihm zu retten, und ihn damit auch von meine Freunden, Partnern und der Familie fernzuhalten. Aber gegen mich privat konnte er weiter feuern, und tat dies mit der von ihm beauftragten Anwaltsgroßkanzlei aus alten Rohren. Bis heute andauernd überzog er mich mit Gerichtsklagen und Strafanzeigen, wobei er in vielen Fällen Vorwürfe frei erfand. Insbesondere der Missbrauch des Strafrechts war da für ihn ein recht bequemer Weg: Es kostet nicht viel Zeit, eine Strafanzeige zu stellen. Sich gegen diese falschen Verdächtigungen zu verteidigen hingegen schon. Man denkt gemeinhin, dass man als Beschuldigter nicht seine Unschuld beweisen muss, will man verhindern dass es zu einem Gerichtsverfahren kommt (in dem dann die Unschuld ermittelt werden würde), muss man es eben doch tun. Zudem versuchte Herr W. mit einer sehr großen Anzahl von Klagen zu verhindern, dass ich über die Geschichte im Internet und auf meiner Homepage berichte. Das etwas provinzielle Amtsgericht Mainz lies ihn walten, und verbot mir tatsächlich ungeachtet aller dabei mit Füßen getretenen Grundrechte sowohl wahre Tatsachenbehauptungen als auch Meinungsäußerungen. Zugleich betrieb Herr W. aber eine Hetzseite, auf der er über mich her zog. Es lief darauf hinaus, dass ich öffentlich in schlechtes Licht gerückt wurde, und mich nicht einmal mit einer Gegendarstellung meiner Sicht der Dinge auf meiner eigenen Homepage wehren durfte. Damit konnte ich mich nicht abfinden. Für das, was Herr W. meinem Unternehmen, meinen Mitarbeitern und meiner Familie angetan hat, wurde er nicht zur Rechenschaft gezogen, und ich musste mich damit abfinden, dass Gesetze nicht für alle Menschen gleich gelten. Ich mochte aber weder meine wirtschaftliche Existenz noch meinen Ruf vernichtet sehen, und war daher gezwungen mich zu wehren. Zeit für ein Privatleben blieb mir da kaum noch.
In der Demoszene war ich zwar weiter aktiv, allerdings primär dahingehend, dass ich für jede in Deutschland sowie einige internationale stattfindende Demopartys mit der Viprinet-Technik die Internetanbindung stellte und als Sponsor auftrat. Damit waren diese Aktivitäten aber auch nur noch halb-privat. Über Jahre hatte ich damit faktisch kaum noch Zeit für ein Privatleben.
Wenn aus Terror Alltag wird
Nachdem sich ein gewisser Rhythmus bzgl. "Herr W. stellt Strafanzeige, ich entkräfte die Vorwürfe, die Staatsanwaltschaft stellt Ermittlungen ein, Herr W. legt Beschwerde dagegen ein, die Oberstaatsanwaltschaft prüft und stellt ebenfalls ein" eingestellt hatte, und Herr W. auch mit seinen Privatklagen kein entscheidender Vernichtungsschlag gelang, hatte ich mich mit diesen Verhältnissen soweit arrangiert, dass ich nervlich nicht mehr auf dem Zahnfleisch ging. Soweit ich es mir erlauben konnte, begann ich mit meiner Partnerin nun mehr zu reisen und mir Entspannung und Ausgleich zu holen für den Stress, den die Abwehr der Angriffe meines Ex-Mitgesellschafters und die parallele Führung meines mittlerweile ziemlich großen Unternehmens verursachten. Ich pflegte zudem die Hoffnung, dass wenn ich die Angriffe einfach aussitzen und nicht zum Gegenangriff ansetzen würde, Herr W. vielleicht irgendwann das Interesse verlieren und sich wieder mehr seinem eigenen Leben und Geschäften zuwenden würde. Nachdem er die ursprüngliche zentral in seiner Unternehmensgruppe stehende GERES Verwaltungsgesellschaft mbH in die Insolvenz hatte gehen lassen, und auch nach all dem was man sonst so im Internet lesen konnte, hätte es wohl eigentlich dringendere Aufgaben in seinem Leben geben müssen, als die Rache an meiner Person.
Ich rede es mir von der Seele (vor Publikum, natürlich)
Zur der abenteuerlichen Geschichte kursierte schon 2012 Firmenintern ein grobes Manuskript. Seinerzeit hörte ich häufiger, dass das Material filmtauglich sei, verfolgte dies aber nicht weiter. Tatsächlich fand ich aber Wege, die Geschichte und die erlittenen Traumata zu verarbeiten: Da wäre zum einen diese Website hier (bzw deren Vorläufer, die Herr W. auf dem Klagewege zensieren und aus dem Google-Index ausradieren ließ), zum anderen aber Vorträge u.a. im Rahmen der "FuckUp Nights". Die FuckUp Nights sind eine globale Bewegung, die 2012 in Mexiko geboren wurde, um die Kunde zu verbreiten, dass Scheitern und Wiederaufstehen keine Schande, sondern eine Tugend ist. In Rahmen von kurzen Vorträgen berichten Unternehmer, wie sie Mist bauten, und dann doch wieder auf die Füße kommen. Gerade in Deutschland, einem Land bei dem einem nach einer Insolvenz mit einem fürchterlichen Stigma gebrandmarkt ist, bestand und besteht großer Bedarf an solcher Aufklärung. Meine beste Freundin war leitender Teil des Organisationsteams der ersten FuckUp Night in Frankfurt, welche Anfang 2015 stattfand. Als sie fragte, ob ich Interesse hätte meine Geschichte dort zu erzählen sagte ich sofort zu. Es war befreiend, das erfahrene Leid mit einem Publikum teilen zu können, welches mir an den Lippen hing. In Folge hielt ich einen vergleichbaren Vortrag auch noch Mitte 2015 im Rahmen des Innovationsforums in der Villa Bosch in Heidelberg. Dort kam das Thema wiederum ebenfalls so gut an, dass ich im Herbst des Jahres von der Uni Heidelberg eingeladen wurde, um vor vollem Haus nochmals meine Geschichte zu erzählen. Als ich 2016 anlässlich der Viprinet-Roadshow in Südafrika war, erzählte ich die Geschichte dann in einer Johannesburger Universität. Und im Herbst 2016 kehrte ich dann nochmals mit einem anderen Aspekt der Story nach Frankfurt zurück. Vor nun gut 1000 Zuschauern durfte ich vermitteln, welche Probleme ich im Leben dadurch erlitten hatte, dass ich als Nerd zeitlebens den Menschen viel zu direkt meine analytischen und logischen Beobachtungen und Schlussfolgerungen ins Gesicht gesagt hatte, und wie ich draus lernte.
Herr W. hört nicht auf
Viprinet ist Erwachsen geworden
Nachdem ich 2015 bei Viprinet ein paar deutliche Kurskorrekturen und damit verbunden einige harte Einschnitte beim Management vornehmen musste, gelang es mir im Laufe des Jahres 2016 viele Probleme des Unternehmens dauerhaft zu lösen. Vor allem gelang es mir, ein Führungsteam so aufzubauen und zu stärken, dass nicht mehr alles über meinen Cheftisch wandern muss. Das ist mir auch persönlich wichtig, denn ich habe vor grob einem Jahr eine wichtige Erkenntnis gewonnen: Mir macht das operative Führen von größeren Menschengruppen eigentlich nicht wirklich viel Spaß, und wenn man sich meine Lebensgeschichte anschaut, würde man auch nicht unbedingt vermuten dass das meine Berufung sein könnte. Was mich an meiner Arbeit erfüllt ist das Analysieren und Erfinden, das Erarbeiten von Strategien und Erkennen von Zukunftschancen. Wenn man hingegen 50 Mitarbeiter führen muss, kann man genauso gut auch Zoowärter von Beruf werden - ständig geht es um Kommunikationsprobleme, Emotionen und Befindlichkeiten. Ab einer gewissen Unternehmensgröße kommt dann noch Bürokratie dazu. Es reifte in mir die Erkenntnis, dass es eigentlich nur einen Grund gab, weshalb ich mich zum operativen Chef gemacht und auch daran geklammert hatte: Meine Wesenszüge eines Kontrollfreaks. Also musste ich an dieser Eigenschaft etwas ändern, und der Schlüssel zur Aufgabe von Kontrolle ist Vertrauen. Nachdem das zusammengestellte Führungsteam seit Anfang 2016 für mich "rund" war, begann ich nun also Schrittweise Verantwortung und Entscheidungskompetenz an dieses abzugeben. Damit erschaffe ich für mich selbst wieder ein wenig Freiraum und Luft zum Atmen.
Zurück in die Zukunft
Mein Ziel für die nähere Zukunft ist es, mich langsam aus dem operativen Geschäft des Unternehmens Viprinet zurückzuziehen. Erstmals in meinem Leben gebe ich nun freiwillig Macht und Kontrolle ab. Sobald ich für die operative Führung des Tagesgeschäfts nicht mehr erforderlich bin, will ich wieder mehr kreativ und erfinderisch tätig werden. Zudem möchte ich auch wieder ein etwas ausgeprägteres Privatleben mit mehr Zeit für meine Freunde, Familie und die Demoszene haben. Bei Viprinet will ich natürlich auch weiterhin Sinn und Strategie stiften und bei der der Analyse und Ausrichtung helfen, und auch weiterhin gerne als Frontman im Rampenlicht stehen, so es denn dem Unternehmen nützt (mein Ego ist nicht mehr darauf angewiesen). Parallel will ich aber auch einige neue Erfindungen von mir in Form von Neugründungen an den Start bringen, und endlich meine Pläne für den Innovationspark Bingen umsetzen. Langweilig wird es mir also wohl eher nicht werden.
Zwischenfazit
Wenn ich bedenke, wo ich als Kind angefangen habe - als sozial unerträglicher und isolierter Nerd, dem Menschen völlig fremd sind, kann ich zufrieden damit sein, wo ich heute stehe. Ich halte mich für einen guten Menschen, dessen Ziel es ist, wenigsten einen winzigen Teil dazu beizutragen, dass die Menschheit voran kommt in ihrer Entwicklung. Natürlich wünsche ich mir Glück, und das habe ich mir ebenfalls erarbeitet. Meinen Wurzeln als Nerd konnte ich trotz geschäftlichem Erfolg treu bleiben. Dort, wo ich mich verändert habe, waren das nützliche Veränderungen, von denen ich und andere profitiert haben. Meine Seele habe ich an nichts und niemanden verkaufen müssen.
Wenn ich weiter an mir arbeite und mich optimiere, kann ich noch
deutlich Größeres erreichen. Ich bin mir ziemlich sicher, dass mir
das auch gelingen wird. Mein Ego wird dabei dafür Sorge tragen, dass
Sie davon erfahren werden. :)